Das Leben von Otto Bollhagen – 1861 bis 1883
Otto Bollhagen – 1861 bis 1883
Rund fünfzehn Monate später erblickte Otto als zweites von insgesamt fünfzehn Kindern das Leben. In der vom »Ackerbürgerstande« und einigen Honoratioren wie dem Apotheker, dem Arzt, dem Brennereibesitzer oder dem Postrat geprägten Stadt konnte der biedere Schneidermeister nur schwerlich mit Nadel und Schere seine wachsende Familie ernähren, da die handwerkliche Tätigkeit wegen der sich einbürgenden Geschäfte mit fertigen Anzügen immer erfolgloser wurde. Um die stets angespannte finanzielle Lage zu verbessern, versuchte sich der Vater als Kolonialwaren- und Zigarrenhändler, während die Mutter »ein Damenputzgeschäft führte und die Wesenberger Frauen und Töchter mit Sommer- und Winterhüten versorgte.« Otto und seine Geschwister verbrachten eine von ihren Altersgenossen abgeschlossene Kindheit, »weil letztere fast durchweg den Ackerbürgerfamilien angehörten und engere Beziehungen zu denselben eben nicht aufkamen.« Nach der Spielschule kam Otto auf die Wesenberger Volks- und Bürgerschule, für den Besuch der Neustrelitzer Bildungsschule reichten die finanziellen Mittel nicht. Kontakt mit der Außenwelt stellten die in Lübeck erscheinende »Eisenbahnzeitung« sowie ältere Bände der »Gartenlaube« her.
Das zeichnerische Talent wurde auf der Schule vom Zeichenlehrer gefördert. Der Unterricht basierte jedoch »nur auf möglichst gutes Kopieren von kleinen Steinzeichnungen, landschaftliche Motive, Tiere, Vögel usw. darstellend. Jeder Versuch, nach der Natur etwas zu zeichnen, war der damaligen pädagogischen Richtung zuwiderlaufend«.
Zur Entlastung des elterlichen Haushaltes wurde Otto zu Ostern 1875 in die Obhut der in Berlin wohnenden Schwester seiner Mutter gegeben. Denn in der Hauptstadt konnte man bereits mit Ende des vierzehnten Lebensjahres konfirmiert werden und somit ein halbes Jahr früher die Schule verlassen. An eine künstlerische Laufbahn war trotz anerkannter Anlagen nicht zu denken, da der Besuch einer Kunstakademie aus materiellen Gründen ausgeschlossen war. So erlernte er in vierjähriger Lehrzeit bei freier Beköstigung die Dekorations- und Stubenmalerei bei einem Berliner Malermeister. Sein verständnisvoller Lehrherr gestattete ihm, in den Sonntagsmorgenstunden die Anfangsklasse des Königlichen Kunstgewerbemuseums zu besuchen. Nach einjährigem Kursus wurde er als bester Schüler mit einer Prämie ausgezeichnet und von seinem Fachlehrer ermuntert, im zweiten Jahr während der Woche an den Abendklassen für Gipszeichnen und Malen teilzunehmen. Nach zwei Jahren entband ihn sein Lehrherr von den »rohen Arbeiten« und setzte ihn »in besseren«, etwas künstlerischen Betätigungen und dekorativen Malereien ein.
Mit dem Ende der Lehre schlug er sich von 1879 bis 1883 mit Gelegenheitsarbeiten in Berlin durch, mal war er Musterzeichner für Teppiche, mal entwarf er neue Tapeten. Ein Unterkommen als Dekorationsmaler war zunächst unmöglich, bis Anfang der 1880er Jahre die Baukonjunktur wieder aufblühte und der Neubau von vornehmen Geschäftshäusern und Villen die Nachfrage nach Dekorationsarbeiten ansteigen ließ. In diesen Jahren, in denen er nebenher weiterhin den Unterricht am Kunstgewerbemuseum besuchte verdiente er pro Woche zwischen 24 und 27 Mark, wovon er bei sparsamer Haushaltung bescheiden leben konnte. Sein Zimmer kostete zwischen 6 und 10 Mark pro Monat, die in Kellerwirtschaften eingenommenen Mahlzeiten zwischen 40 und 50 Pfennig.
Als er erkannte, daß bei »all meinem begeisterten Streben nach höherer künstlerischer Betätigung.... meine Mühen in Berlin eben nichts nutzten.... daß junge Leute meiner Begabung welche nicht gerade als außergewöhnliche Genies anzusprechen sind«, auf der ersten Kunstschule einer Stadt wie Berlin »nicht besonders auffielen«, gab er die Hoffnung, ein Stipendium zum mehrjährigen Lehrkurs zu erhalten, entmutigt auf. Um sich noch eine letzte Chance einzuräumen, besuchte er für ein Vierteljahr eine Tagesmalklasse und kopierte Malereien aus dem Hause Fugger in Augsburg, Meisterwerke italienischer Malerei, schuf Decken und Wandmalerei, fertigte Akte und Gewänderstudien an und erledigte sechs größere Studien und Arbeiten. Doch eine befriedigende Beschäftigung ließ sich in Berlin nicht finden.
In den Abendklassen hatte er im Gips- und Figurenzeichnen, in Aktmalerei, in Anatomie und Stillehre »soviel wegbekommen«, daß er nun danach strebte, »wirklich in der Praxis mein Können anzuwenden.« Er kehrte Berlin den Rücken und zog in die Hansestadt Hamburg. Als blinder Passagier in der vierten Klasse des Nachtzuges kam er an die Elbe und fand dort »wirklich als besserer Dekorationsmaler bzw. Künstler« Unterschlupf in einem Malerbetrieb, der in erster Linie einem Dekorationsmaler für die vielen Villenbauten suchte.
»In einer Zeit einer kräftig beginnenden Bauperiode, wo gewissermaßen alles die alten Formen studierte, ja sich in Architektur und Malerei ein starkes Kopieren alter Stilarten auf dekorativem Gebiet breit zu machen begann, ohne daß die Beteiligten sich gewisser Geschmacklosigkeiten bewußt waren, begann meine freie dekorative künstlerische Betätigung.«